Wachsender Personalmangel in Pflegeheimen und Kliniken

In der Nacht vom 15. April rief eine Altenpflegerin, die ihre Schicht beenden wollte, aus Verzweiflung Polizei und Feuerwehr. Der Grund dafür war eine fehlende ausgebildete Pflegefachkraft für die Nachtschicht im Pflegeheim „Am Schloß Friedrichsfelde“ in Berlin-Lichtenberg, was zu einer akuten Notsituation führte. Nur ausgebildete Pflegefachkräfte dürfen bestimmte Tätigkeiten, wie beispielsweise die Gabe von Medikamenten, durchführen.

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Die eingeschaltete Polizei schilderte den Vorfall am späten Abend folgendermaßen: „Die Altenpflegerin versuchte dann, den Bereitschaftsdienst anzurufen und in der Folge auch die Heimleitung, war aber nicht erfolgreich. In der Notsituation wandte sie sich dann an die Polizei und die Feuerwehr.“ Kurze Zeit später trafen drei Polizisten sowie mehrere Sanitäter mit Rettungswagen vor Ort ein.

In der Nachtschicht waren drei Pflegeassistenten und die Pflegefachkraft einer Zeitarbeitsfirma für etwa 150 ältere, pflegebedürftige Personen eingeplant. Nach Aussage des zuständigen Pflegebetreibers, der Domicil-Unternehmensgruppe, war ein Problem in der EDV Schuld am Ausbleiben der gebuchten Pflegekraft. Diese konnte angeblich für den Nachtdienst nicht gebucht werden, da die E-Mail für die Buchung nicht gesendet wurde und dementsprechend auch keine Bestätigung der Buchung erfolgte. Offenbar fiel dieser gravierende Fehler bis zur anstehenden Dienstübergabe niemandem auf.

In dieser Nacht starb eine Seniorin in dem Pflegeheim. Inwieweit es zu dem Vorfall in der Nacht einen Zusammenhang gibt, ist bisher unklar. Domicil, die zu den zehn größten Pflegeheimbetreibern in Deutschland gehört und 2022 einen Gewinn von 4,3 Millionen Euro erwirtschaftete, hat sich bisher nicht öffentlich zu dem Todesfall geäußert. Das Unternehmen betont aber in einer Stellungnahme vom 16. April auf seiner Homepage, „dass zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung der Bewohnerinnen und Bewohner bestand, da stets eine Pflegefachkraft vor Ort und im Dienst war“.

Es besteht aber der Anfangsverdacht auf fahrlässige Tötung, nachdem ein anonymer Hinweis bei der Staatsanwaltschaft eingegangen ist, die wiederum Ermittlungen gegen Unbekannt eingeleitet hat. Das Pflegeheim hat eine „unabhängige Untersuchung durch eine externe Anwaltskanzlei eingeleitet“ und will „vollumfänglich mit den Behörden kooperieren“.

Der Einsatz der gerufenen Sanitäter endete erst Dienstag früh gegen 1:30 Uhr, nachdem der Heimleiter um Mitternacht erreicht wurde und die Nachtschicht selbst antrat.

Die Reaktion des Betreibers auf den Vorfall war der Austausch der Heimleitung und der Pflegedienstleitung „mit sofortiger Wirkung“ in der vorletzten Woche.

Tatsächlich hat dieser Vorfall lediglich ein Schlaglicht auf die Zustände in Pflegeheimen geworfen. Bereits 2015 war es in Berlin-Rudow zu einem ähnlichen Vorfall gekommen, bei dem, weil keine Fachkraft im Dienst war, eine Pflegehilfskraft einen Notarzt rufen musste, um die Bewohner medizinisch zu versorgen.

Seither kommt es regelmäßig zu „Skandalen“ in Einrichtungen, die kranke und pflegebedürftige Menschen versorgen. In der Regel sind Zustände schlechter Versorgung auf den eklatanten Personalmangel zurückzuführen, der im gesamten Pflegebereich seit vielen Jahren vorherrscht.

Immer mehr Kliniken und Pflegeheime müssen Stationen oder gar ganze Standorte schließen, weil die Versorgung durch fehlendes Personal nicht sichergestellt werden kann. Studien haben gezeigt, dass bis 2030 mehr als 50.000 Stellen in der Pflege nicht besetzt werden können. Dabei wird ein Personalschlüssel zu Grunde gelegt, der im Grunde keine qualitativ hochwertige Versorgung zulässt. Bis 2049 fehlen laut Statistischem Bundesamt voraussichtlich mindestens 280.000 Pflegekräfte.

Dies ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Politik von Privatisierung und Sparmaßnahmen im Gesundheits- und Pflegesektor, die alle etablierten Parteien verfolgt haben. Während der Corona-Pandemie wurde dies offensichtlich. Die Beschäftigten schufteten am Limit, was sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Das dies Auswirkungen auf die Versorgung der Patienten und Bewohner hat, ist offensichtlich.

Sowohl Pflegeeinrichtungen als auch Kliniken stehen gegenwärtig vor einer Welle von Insolvenzen. Laut dem Arbeitgeberverband Pflege mussten 2023 im Schnitt täglich zwei Pflegeeinrichtungen Insolvenz beantragen oder schließen. Dies waren doppelt so viele, wie im Jahr zuvor.

Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft plant über die Hälfte der Kliniken in den nächsten zwölf Monaten Personal abzubauen, Stationen oder sogar ganze Standorte zu schließen, um die Insolvenz zu verhindern. Dies ist ganz im Sinne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der jüngst erneut bekräftigte, es gebe zu viele Kliniken in Deutschland, und daher den „kalten Strukturwandel“ nach Kräften fördert.

Auch die Gewerkschaft Verdi hat sich zu dem Vorfall in Berlin zu Wort gemeldet und ihn als „unerträglich“ bezeichnet. Die stellvertretende Landesfachbereichsleiterin für Berlin und Brandenburg, Gisela Neunhöffer, verlangt, dass „der Berliner Senat, die Pflegekassen und die Leistungserbringer jetzt gemeinsam Vereinbarungen treffen, wie Personalstandards auf Landesebene festgelegt und wirksam kontrolliert werden“.

Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewerkschaften für die katastrophale Situation im Gesundheitswesen mitverantwortlich sind. Durch „Entlastungstarifverträge“ haben sie in den letzten Jahren die katastrophalen Bedingungen zementiert und die weit verbreitete Wut der Beschäftigten gezielt unterdrückt. Es ist bezeichnend, dass sich Verdi an den Berliner Senat und die privaten Betreiber von Pflegeeinrichtungen wendet, die zum großen Teil für die Misere verantwortlich sind.

Die Regierung auf Bundes- und Länderebene reagieren auf den katastrophalen Personalmangel, indem sie die Qualität der Versorgung noch weiter absenken.

So plant der rot-grüne Hamburger Senat die Fachkraftquote in Pflegeheimen zu senken. Bislang gilt, dass Betreiber von Pflegeeinrichtungen 50 Prozent Fachkräfte vorhalten müssen. Diese Quote zu senken bedeutet mehr Arbeitsbelastung für die verbleibenden Pflegefachkräfte und eine merklich schlechtere Versorgung, wie zahlreiche Studien belegen.

Die Ampel-Koalition und Gesundheitsminister Lauterbach arbeiten derweil an einem Entwurf des Pflegekompetenzgesetzes. Es soll die von Lauterbach initiierte Krankenhausreform ergänzen und unter anderem regeln, welche Aufgaben von Pflegefachkräften durchgeführt werden können. Dabei sollen beispielsweise die aus der Reform entstehenden Versorgungszentren nicht mehr zwingend ärztlich geleitet werden, was zu Kosteneinsparungen führen soll.

Dasselbe Ziel hat auch die geplante Einführung einer Mischform aus ambulanter und stationärer Langzeitversorgung. Obwohl hier noch wenig Details bekannt sind, soll offenbar eine Möglichkeit geschaffen werden, eine oft notwendige und kostenintensive stationäre Langzeitversorgung durch eine günstigere und vermutlich nicht dem Bedarf entsprechende ambulante Versorgung zu ersetzen. Hier erklärte Lauterbach entlarvend, diese könne „ökonomisch attraktiv“ sein.

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