Israel zieht Soldaten aus Chan Junis ab, um sich vor Angriff auf Rafah neu zu formieren

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu machte am Montag klar, dass es „ein Datum“ gibt für einen Angriff auf Rafah, die südlichste Stadt des Gazastreifens. Am Tag zuvor hatten die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) ihre Truppen aus Chan Junis abgezogen. Nach einer brutalen viermonatigen Kampagne von Tod und Zerstörung in der einst größten Stadt im südlichen Gazastreifen haben die IDF-Soldaten in Chan Junis ein Trümmerfeld hinterlassen.

Mitglieder der Familie Abu Draz inspizieren ihr Haus, nachdem es durch einen israelischen Luftangriff in Rafah zerstört wurde, 4. April 2024 [AP Photo/Fatima Shbair]

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte am Sonntag, das Militär werde sich „neu formieren“ und auf „Folgeeinsätze“ vorbereiten. Der israelische Fernsehsender Channel 13 berichtete am Montag, dass die Evakuierung der mehr als 1,5 Millionen Menschen, die derzeit in Rafah eingepfercht sind, bereits in dieser Woche beginnen könnte, wobei der Prozess „mehrere Monate“ dauern würde. Mit Blick auf die Rafah-Operation erklärte Netanjahu: „Sie wird stattfinden. Es gibt ein Datum.“

Bei Abzug der 98. Division aus Chan Junis machten die IDF deutlich, dass sie zwei Brigaden in der Enklave behalten würden, um „die Handlungsfreiheit der IDF und ihre Fähigkeit zur Durchführung präziser nachrichtendienstlicher Operationen zu wahren“.

Sprecher des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums versuchten, den Abzug als einen Schritt in Richtung Waffenstillstand darzustellen. Sowohl der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates des USA, John Kirby, als auch der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, erklärten, dass die Vereinigten Staaten nicht über einen Starttermin für eine Rafah-Offensive informiert seien. Sie verwiesen auf eine neue Runde von Waffenstillstandsgesprächen, die am Sonntag in Kairo eröffnet wurde. Bei diesen soll Berichten zufolge ein Vorschlag zur Umsetzung eines Waffenstillstands während des muslimischen Feiertags Eid al-Fitr diskutiert worden sein.

Washington und die willfährigen Leitmedien wollen offenbar den Eindruck erwecken, dass Israel und die USA sich ernsthaft um einen Waffenstillstand bemühen. Gleichzeitig wurde der Hamas eine Art Ultimatum gestellt. Kirby erklärte unverblümt: „Zum Schluss des Wochenendes wurde der Hamas ein Vorschlag unterbreitet, und jetzt liegt es an der Hamas, ihn umzusetzen.“

Mit anderen Worten: Wenn die Hamas nicht den „Durchbruch“ macht, indem sie die totale Kapitulation vor den IDF akzeptiert und alle Geiseln freilässt, auch ohne Garantien für einen dauerhaften Waffenstillstand zu haben, wird sie die Schuld für den blutigen Angriff auf Rafah tragen. Die Regierung Biden wird behaupten, sie habe alles getan, um den Angriff zu verhindern, und gleichzeitig hoffen, dass sich niemand an die insgesamt 1.800 2.000-Pfund-Bomben erinnert, die die USA kürzlich an Israel geliefert haben - gerade rechtzeitig, um sie auf Rafah abzuwerfen.

Am späten Montag soll ein hoher Hamas-Vertreter die Ablehnung der Bedingungen bekanntgegeben haben. Berichten zufolge beharrt die Hamas auf dem eigenen Vorschlag vom 14. März, der einen dauerhaften Waffenstillstand, die Rückkehr aller vertriebenen Palästinenser in ihre Häuser und den Abzug aller IDF-Truppen aus dem Gazastreifen vorsieht. Laut einer anderen Quelle wird der Vorschlag noch durch die Hamas geprüft. Israelische Vertreter haben deutlich gemacht, dass der Krieg auch dann weitergehen wird, wenn alle Geiseln nach Hause zurückkehren. Netanjahu hat wiederholt drei Ziele des Angriffs genannt: die Freilassung der Geiseln, die Eliminierung der Hamas und die Herstellung der Sicherheitskontrolle über den gesamten Gazastreifen.

Die Verwüstung, die Rafah erwartet, das bereits wiederholt Ziel von Luftangriffen war, wurde veranschaulicht durch Berichte von Einwohnern, die am Montag nach Chan Junis zurückkehrten und eine Stadt in Trümmern vorfanden. Zahlreiche Hochhäuser wurden in Schutt und Asche gelegt, und das Nasser-Krankenhaus, ehemals das größte der Stadt, wurde durch anhaltende Angriffe der IDF verwüstet. Allein am ersten Tag wurden mindestens 84 Leichen in den Trümmern entdeckt. „Es ist alles nur noch Schutt“, sagte Ahmad Abu al-Rish gegenüber Al Jazeera. „Tiere können hier nicht leben, wie soll es dann ein Mensch können?“

Doch genau das schlägt die israelische Regierung vor. Der Rückzug aus Chan Junis würde es der Zivilbevölkerung ermöglichen, aus Rafah in ihre Häuser zurückzukehren, sagte ein Militärvertreter gegenüber der Tageszeitung Haaretz. „Es gibt keinen Grund für uns, in Chan Junis zu bleiben“, heißt es von den IDF. „Die 98. Division hat die Chan-Junis-Brigaden der Hamas zerschlagen und Tausende ihrer Mitglieder getötet. Wir haben dort alles getan, was wir konnten.“

Der Truppenabzug wird keine Entspannung der verzweifelten humanitären Lage für die Bevölkerung im Gazastreifen bringen. Sie ist aufgrund der absichtlichen Blockade von Hilfslieferungen durch Israel mit einer zunehmenden Hungersnot konfrontiert. Die israelischen Behörden gaben am Montag bekannt, dass 322 Lastwagen die Genehmigung zur Einfahrt in den Gazastreifen erhalten haben, die höchste Zahl an einem einzigen Tag seit Beginn des völkermörderischen Angriffs. Selbst diese Zahl bleibt weit hinter den Bedarfsschätzungen der UN und anderer Hilfsorganisationen zurück, die sich um die benötigten Hilfsgüter zur Versorgung der Bevölkerung kümmern.

Ein Korrespondent von Al Jazeera in Rafah berichtete, dass keiner der Lastwagen in den Norden des Gazastreifens fahren durfte, was den Einsatz des Hungers als Kriegswaffe weiter verschärft. Letzte Woche berichtete die britische Hilfsorganisation Oxfam, dass die Bewohner des Nordens von Gaza mit nur 245 Kalorien pro Tag auskommen müssen, was gerade einmal 12 Prozent der empfohlenen Nahrungsaufnahme für einen Erwachsenen entspricht.

Sean Carroll, Leiter der American Near East Relief Agency (ANERA), einer der Organisationen, die nach der Ermordung von sieben Mitarbeitern der World Central Kitchen durch Israel in der vergangenen Woche ihre Arbeit eingestellt haben, sagt hierzu: „Um den extremen Mangel an Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern auszugleichen, müssten wir mehr als 500 Lastwagen pro Tag zählen. Die eigentliche Frage ist, wer all diese Hilfe leisten wird.“

Ein nicht minder schrecklicher Ausdruck der Brutalität Israels gegenüber den Palästinensern ist die Grausamkeit, mit der die Gefangenen behandelt werden. Einem Bericht von Haaretz zufolge hat ein Arzt des medizinischen Zentrums Sde Teiman in der vergangenen Woche einen Brief an das Parlament gerichtet, in dem er beschreibt, wie Häftlingen aus dem Gazastreifen routinemäßig Gliedmaßen amputiert werden, weil es aufgrund der engen Handschellen und Fesseln zu Komplikationen kommt. „Erst diese Woche mussten zwei Gefangenen aufgrund von Verletzungen durch Handschellen die Beine amputiert werden, was leider ein Routinefall ist“, schreibt der Arzt. Anderen Quellen zufolge werden die Gefangenen in der Regel 24 Stunden am Tag gefesselt und mit verbundenen Augen gehalten und durch Strohhalme gefüttert.

Mehr als sechs Monate nach dem Beginn des israelischen Völkermords an den Palästinensern stellt das zionistische Regime seine Barbarei für alle sichtbar zur Schau. Die wahllose Bombardierung des Gazastreifens hat die offizielle Zahl der Todesopfer auf über 33.000 Männer, Frauen und Kinder ansteigen lassen. Die Zahl liegt noch weit über 40.000, wenn die Vermissten mitgezählt werden. Israels „Endlösung“ der palästinensischen Frage wurde durch die unermüdliche Unterstützung der imperialistischen Mächte ermöglicht. Die Biden-Regierung hat sich wiederholt geweigert, eine „Rote Linie“ hinsichtlich Israels Grausamkeiten zu ziehen. Gleichzeitig hat sie mehr als 100 Lieferungen von Rüstungsgütern und anderer militärischer Ausrüstung getätigt, um die Maschinerie des Völkermords in Gang zu halten.

Ein weiterer wichtiger imperialistischer Unterstützer des Völkermords in Gaza ist Deutschland, das Israel jedes Jahr mit Waffen im Wert von etwa einer halben Milliarde Dollar beliefert. Bei einer Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag am Montag beschuldigte Nicaragua die deutsche Regierung der „Beihilfe zum Völkermord“ aufgrund der Waffenlieferungen Berlins an Israel und der bedingungslosen Unterstützungserklärungen für den Krieg in Gaza. Deutschland habe es versäumt, „zwischen Selbstverteidigung und Völkermord zu unterscheiden“, so der Leiter der nicaraguanischen Delegation, Carlos Jose Francisco Arguello Gomez. Daniel Mueller, ein weiterer Anwalt, der Nicaragua vertritt, sagte vor Gericht, dass es „eine erbärmliche Ausrede gegenüber den palästinensischen Kindern, Frauen und Männer ist, einerseits humanitäre Hilfe zu leisten, auch durch Luftabwürfe, und andererseits die militärische Ausrüstung zu liefern, die verwendet wird, um sie zu töten und zu vernichten“.

Der Grund dafür, dass die imperialistischen Mächte Israels barbarische Behandlung der Palästinenser gutheißen, liegt in der sich vertiefende Krise des Weltkapitalismus. Die schrecklichen Verbrechen, die Israel an den Palästinensern begeht, werden sich in einem viel größeren Maßstab wiederholen, wenn die Imperialisten ihren Willen bekommen. Mit der gleichzeitigen Unterstützung des Völkermords im Gazastreifen, der rücksichtslosen Eskalation des US-Nato-Kriegs gegen Russland und den Kriegsvorbereitungen gegen China demonstrieren der amerikanische und der europäische Imperialismus der Welt, dass sie vor nichts zurückschrecken werden, um ihre Interessen durchzusetzen, einschließlich eines globalen Flächenbrands mit Atomwaffen.

Die Aufgabe der Arbeiterklasse besteht darin, der kapitalistischen Barbarei ein Ende zu setzen, indem sie den Kampf für ein sozialistisches und internationalistisches Programm aufnimmt. Die Massenproteste, die weltweit gegen den Völkermord im Gazastreifen stattfanden, müssen zusammengeführt werden mit den Kämpfen der Arbeiter gegen jene Angriffe auf ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensstandard, die zur Finanzierung von Militarismus und Krieg in allen großen imperialistischen Zentren stattfinden. Eine internationale Antikriegsbewegung unter Führung der Arbeiterklasse muss aufgebaut werden, um Israels Angriff und den sich bereits abzeichnenden Dritten Weltkrieg zu stoppen.

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