Ungarn: Der italienischen Lehrerin Ilaria Salis droht wegen angeblichem Angriff auf Neonazis jahrelange Haft

Der Prozess gegen die italienische Lehrerin Ilaria Salis und weitere Mitangeklagte sorgt international für Empörung. Die 39-jährige Mailänderin steht in Budapest wegen „heimtückischer Gewalttaten“ gegen Rechtsextremisten vor Gericht, die sie im letzten Jahr begangen haben soll. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu 24 Jahre Haft.

Ilaria Salis wird in Budapest vor Gericht vorgeführt [Photo by Screenshot TG3]

An den Angriffen auf die Rechtsextremisten sollen weitere italienische und deutsche Linksaktivisten beteiligt gewesen sein, die angeblich zu einer Gruppe um die deutsche Lina E. gehören. Diese war im Mai von einem deutschen Gericht wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextremisten zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Ein weiterer deutscher Staatsbürger wurde später in Berlin festgenommen. Ungarn stellte einen Antrag auf Auslieferung.

Salis und den Mitangeklagten wird in Budapest wegen Mitgliedschaft in einer „kriminellen Vereinigung“ und schwerer Körperverletzung der Prozess gemacht. Einigen Mitgliedern dieser angeblichen Vereinigung, darunter Salis, werden Angriffe auf Teilnehmer des berüchtigten Neo-Naziaufmarschs zur Last gelegt, der vor einem Jahr in Budapest zum „Tag der Ehre“ stattfand. Laut Anklage wurden dabei neun Personen verletzt. Salis soll direkt an Angriffen auf zwei Teilnehmer beteiligt gewesen sein.

Salis bestreitet die gegen sie erhobenen Vorwürfe vehement. Bezeichnenderweise wurde sie bislang von den mutmaßlichen Opfern auch nicht angezeigt. Beobachtern zufolge könnte sich der Prozess in die Länge ziehen. Nach jetzigem Stand wird er erst im Mai fortgesetzt.

Der gesamte Prozess war bisher eine Farce. Die Staatsanwaltschaft stellt die Opfer der angeblichen Angriffe bewusst als „Wanderer“, „Touristen“ und harmlose „Bürger“ dar. Tatsächlich handelt es sich teilweise um bekannte Mitglieder der europäischen Neonazi-Szene.

Neben dem hohen Strafmaß sorgte vor allem Salis Misshandlung vor Gericht und im Gefängnis für Empörung. Sie wurde an Händen und Beinen gefesselt an einer so genannten Bärenleine vor Gericht geführt.

Zsolt Zádori, ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee, wies darauf hin, dass gemäß des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine „unnötige Fesselung“ wie im Falle von Salis eine schwere „Grundrechtsverletzung“ sei.

Salis sitzt mittlerweile seit über einem Jahr unter unmenschlichen Bedingungen in einem Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft. Dort herrschen katastrophale hygienische Zustände. Erst eine Woche nach Inhaftierung erhielt sie Seife und Kleidung zum Wechseln.

In einem Brief berichtete Salis, in ihrer nur drei Quadratmeter großen Zelle wimmle es von Bettwanzen und Kakerlaken. Nachdem dies bekannt geworden war, sprühten Gefängniswärter Pestizide gegen das Ungeziefer. Salis musste unmittelbar danach wieder in ihre Zelle, so dass sie die giftigen Dämpfe einatmete, berichten Anwälte, die den Fall verfolgen. Das Helsinki-Komitee hatte bereits früher über solche Zustände berichtet.

Auch der Zugang zu medizinischer Versorgung wurde Salis verwehrt oder erst verspätet zugestanden. Nachdem im März eine Ultraschalluntersuchung notwendig gewesen wäre, wurde sie erst Mitte Juni zur Untersuchung in eine Klinik gebracht. Die ärztlichen Berichte wurden allerdings weder ihr noch ihren Anwälten ausgehändigt.

Erst nach sieben Monaten wurde Salis der Kontakt zu ihrer Familie erlaubt, und auch den ungarischen Anwälten der Antifaschistin wird die Kontaktaufnahme so schwer wie möglich gemacht.

Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, dass einer der Angeklagten einen Deal mit der Staatsanwaltschaft geschlossen hat. Er gestand die Vorwürfe ein und verzichtete auf das Recht auf eine Verhandlung. Er muss nun drei Jahre in Haft verbringen.

Es ist offensichtlich, dass sowohl die Behandlung, als auch das gesamte Verfahren politisch motiviert sind. Die rechte Regierung von Premier Viktor Orbán hat seit der Regierungsübernahme 2010 das Justizsystem grundlegend umgebaut und die Spitzenpositionen mit regierungsnahen Personen besetzt.

Die Regierung selbst stützt sich immer mehr auf extrem rechte Elemente und verfügt über enge Verbindungen zu offen faschistischen Kreisen. Während jedes Jahr am „Tag der Ehre“ hunderte Rechtsextremisten in Uniformen mit Hakenkreuzen und anderen faschistischen Abzeichen unbehelligt durch die Stadt marschieren, werden die Gegendemonstrationen von einem riesigen Polizeiaufgebot begleitet und nicht selten beschränkt oder aufgelöst.

Wegen der Bedingungen in Ungarn urteilte das Mailänder Berufungsgericht vergangene Woche, dass die 23-jährige Gabriele Marchesi vorläufig nicht nach Budapest ausgeliefert werden darf. Der Aktivistin werden ähnliche Taten wie Salis vorgeworfen, und Ungarn hatte ihre Auslieferung beantragt. Die Entscheidung begründete das Gericht mit Bedenken hinsichtlich „möglicher Grundrechtsverletzungen“ in ungarischen Gefängnissen.

Nachdem das Bekanntwerden der Haftbedingungen einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, wurde von offizieller italienischer Seite formal Kritik geübt. Der ungarische Botschafter wurde einbestellt und Regierungschefin Georgia Meloni von der faschistischen Fratelli d’Italia telefonierte mit Orbán.

Tatsächlich unterstützt die rechtsextreme Regierung in Italien aber das Vorgehen in Ungarn. Meloni und Orbán stehen sich politisch nahe. Außenminister Antonio Tajani (Forza Italia) machte deutlich, dass Italiens Regierung jedes Urteil des Budapester Gericht akzeptieren werde, und auch Justizminister Carlo Nordio (Fratelli d’Italia) erklärte, Rom habe alles getan und werde nicht weiter eingreifen, da man die Autonomie Ungarns achte.

Die deutsche Bundesregierung ist noch weniger bereit, mitangeklagten deutschen Staatsbürgern zu helfen. Neben Salis sitzt seit einem Jahr der Berliner Tobias E. in Haft. In Dresden wartet Maja T. auf eine Entscheidung zur Auslieferung nach Ungarn.

Der Fall von Tobias E. aus Berlin sei dem Auswärtigen Amt zwar bekannt und Mitarbeiter der deutschen Botschaft hätten den Prozess Ende Januar in Budapest beobachtet, weitere Schritte seien aber nicht erfolgt, erklärte das Auswärtige Amt auf einer Pressekonferenz. Dies kann nur so gedeutet werden, dass die Bundesregierung das Vorgehen gegen die Aktivisten unterstützt.

Es gibt mit Orbán zwar Konflikte über seine Zurückhaltung im Ukrainekrieg, aber seine rechte Politik wird in der gesamten EU unterstützt und nachgeahmt, sei es das brutale Vorgehen gegen Flüchtlinge oder die konsequente Abschaffung demokratischer Rechte.

Hier wird noch einmal deutlich, was sich schon im Urteil gegen Lina E. gezeigt hat: Während rechte Kräfte hofiert und gefördert werden, wird der Widerstand gegen sie kriminalisiert und unterdrückt.

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