Perspektive

Das Abtreibungsurteil des Obersten Gerichtshofs von Texas und die Angriffe auf demokratische Rechte

Kate Cox [Photo: Kate Cox]

Der Supreme Court im US-Bundesstaat Texas hat eine medizinisch notwendige Abtreibung verhindert. Dieser Schritt ist nicht nur ein gewaltiges Unrecht, sondern entlarvt auch die Fäulnis des gesamten Gesellschaftssystems in Amerika, wo grundlegende Menschenrechte bedroht sind und aufgehoben werden.

Die 31-jährige Kate Cox aus Texas litt laut ihren Ärzten und Anwälten durch ihre Schwangerschaft unter schweren gesundheitlichen Problemen, die ihr Leben und ihre Fruchtbarkeit gefährdeten. Bei ihrem Fötus wurde eine tödliche Anomalie diagnostiziert, die nach Auskunft der Ärzte „wahrscheinlich zu einer Totgeburt führt oder bestenfalls dazu, dass ihr Baby nur Minuten, Stunden oder Tage am Leben bleibt“. Darüber hinaus bestand für sie ein erhöhtes Risiko für Langzeitfolgen, da ihre beiden vorangegangenen Schwangerschaften ein Kaiserschnitt waren. Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft verschlechterte sich ihr Zustand, und sie musste vier Mal in die Notaufnahme.

Ihre Ärztin Dr. Damla Karsan empfahl eine Abtreibung. In Texas gilt ein drakonisches neues Abtreibungsgesetz, das jeden unter Strafe stellt, der eine illegale Abtreibung vornimmt oder dabei „hilft“. Deshalb beantragten Cox und Dr. Karsan bei Gericht eine Eilentscheidung für die Abtreibung, mit der Begründung, dass sie medizinisch notwendig sei. Am 7. Dezember wurde die Genehmigung von der texanischen Bezirksrichterin Maya Gamble aufgrund der Dringlichkeit erteilt.

Daraufhin forderte der Generalstaatsanwalt von Texas, Ken Paxton, den Obersten Gerichtshof des Bundesstaats auf, sofort einzugreifen, um die Entscheidung der Bezirksrichterin aufzuheben. Er sandte auch Drohbriefe an die Krankenhäuser in Houston, in denen Cox seiner Meinung nach versuchen könnte, den Eingriff vornehmen zu lassen. Er drohte den Ärzten mit Klagen, die eine lebenslange Haftstrafe und eine Geldstrafe von 100.000 Dollar nachsichziehen könnten. Paxton argumentierte, dass „das Leben eines ungeborenen Kindes auf dem Spiel steht“. Das texanische Recht erlaube keine Abtreibungen, nur weil das Baby außerhalb des Mutterleibs kaum Überlebenschancen hätte.

Paxton ist ein notorischer Verbrecher, selbst für texanische Verhältnisse. Anfang des Jahres wurde er wegen Korruption angeklagt und entging nur knapp einer Verurteilung. Er weiß genau, wie man das Justizsystem für faschistische Provokationen missbraucht. So hat er seine Befugnisse als Generalstaatsanwalt genutzt, um alle Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie zu blockieren und Trumps Putschversuch am 6. Januar 2021 zu unterstützen. Er verteidigte auch den Einsatz von Stacheldraht an der Grenze zu Mexiko, wo Flüchtlinge bei der Überquerung des Rio Grande ertrinken oder im Stacheldrahtzaun gefangen werden.

Cox teilte dem Obersten Gerichtshof von Texas mit, dass sie beabsichtigt, aus dem Bundesstaat zu fliehen und anderswo eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Wenige Stunden später fällten die Richter am Montag eine Entscheidung zu Gunsten von Staatsanwalt Paxton.

Die Richter bedienten sich der Sprache der rechtsextremen christlichen Fundamentalisten, indem sie den Fötus als Cox’ „ungeborenes Kind“ bezeichneten. Der Supreme Court hob die Entscheidung der Bezirksrichterin auf und erklärte, dass Cox nicht bewiesen habe, dass sie in Lebensgefahr war oder ihre Schwangerschaft „ein ernsthaftes Risiko einer erheblichen Beeinträchtigung wichtiger Körperfunktionen darstellt, wenn die Abtreibung nicht durchgeführt wird“.

Mit anderen Worten: Vielleicht wird sie verstümmelt und entstellt sein, aber sie wird wahrscheinlich überleben!

Der wissenschaftliche Rat eines Arztes, der sich um die Sicherheit seines Patienten sorgt, wird in dieser Gerichtsentscheidung mit Füßen getreten. Sie reiht sich ein in die Angriffe der Republikaner auf Mediziner, die an der Bekämpfung von Covid-19 beteiligt sind. Die Ärzte werden in eine unmögliche Zwickmühle gebracht. Entweder brechen sie mit ihrer beruflichen Pflicht und vernachlässigen die Gesundheit und Sicherheit ihrer Patienten oder sie müssen Anklagen und Gefängnisstrafen fürchten, wenn irgendein Ignorant in Robe später verkündet, dass das Verfahren nicht angemessen war.

Das Verhalten von Paxton und dem Supreme Court von Texas entlarvt die angebliche Sorge der Republikaner um das „Leben der Mutter“. Mit diesem Argument wurden vermeintliche „Ausnahmen“ in die Abtreibungsverbote eingefügt, die in einigen von den Republikanern kontrollierten Bundesstaaten eingeführt wurden. In der Praxis können diese „Ausnahmen“ aber einfach ignoriert werden.

Gegen diese Entscheidung des höchsten Gerichts in dem zweigrößten Bundesstaat der USA kann keine Berufung eingelegt werden. Sie gibt grünes Licht für weitere solcher Fälle in Staaten mit ähnlichen Gesetzen. Und viele Frauen und Mädchen aus der Arbeiterklasse können es sich nicht wie Cox leisten, für einen Schwangerschaftsabbruch in einen anderen Bundesstaat zu reisen. Ohne Zugang zu professioneller medizinischer Versorgung werden sie stattdessen auf Kleiderbügel und geschmuggelte Pillen zurückgreifen, ganz gleich, welche Gesetze gelten.

Die drückende Last dieser religiös-fundamentalistischen Gesetze trifft vor allem die Arbeiterklasse. Wohlhabende Frauen und ihre Familien werden immer in der Lage sein, eine Abtreibung in einem anderen Staat oder Land durchführen zu lassen. Vielleicht können sie sich sogar einen sicheren und diskreten Eingriff in einem Bundesstaat leisten, wo er offiziell illegal ist.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki bezeichnete das Recht auf Abtreibung als „eines der bedeutendsten politischen und kulturellen Bürgerrechte“. In der heutigen Welt ist dieses Recht nicht nur entscheidend für die körperliche Selbstbestimmung und die individuelle Freiheit, sondern auch für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben. In seinem Buch Verratene Revolution (1936) kritisierte Trotzki die Aufhebung des Rechts auf Abtreibung, das nach der Oktoberrevolution 1917 eingeführt worden war, als eines der großen Verrätereien das stalinistische Regime.

Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wurde in den Vereinigten Staaten nie vollständig anerkannt. In der Grundsatzentscheidung Roe v. Wade des Obersten Gerichtshofs von 1973 wurde es gestützt auf die Verfassung teilweise bestätigt, aber im Sommer letzten Jahres in dem Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization wieder aufgehoben.

Die Dobbs-Entscheidung hat die Weichen gelegt für den Albtraum, der jetzt in Texas herrscht. Sie öffnete auch die Schleusen für weitere pseudo-juristische Angriffe auf demokratische Rechte: das Wahlrecht, die Diskriminierungsfreiheit, das Recht auf einen Anwalt, die Rechte gegen Polizeibrutalität, das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe und sexuelle Freiheit, das Streikrecht und das Recht auf Privatsphäre.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Texas erfolgt zeitgleich zu Israels Genozid in Gaza, der von der US-Regierung unterstützt wird. Während die Republikaner in ihrer Kampagne gegen eine leidende schwangere Frau in Texas zynisch auf der „Heiligkeit des Lebens“ bestehen, sind sie selbst blutrünstigste Befürworter des Massenmords an den Palästinensern. Der republikanische Kongressabgeordnete Max Miller aus Ohio brachte es auf die Formel: „Palästina wird in einen Parkplatz verwandelt.“

Militärische Gewalt im Ausland und der Abbau demokratischer Rechte im Innern sind miteinander verknüpfte Prozesse, wie die World Socialist Web Site während der jahrzehntelangen ununterbrochenen Kriege der USA betont hat. Von einer Regierung, die mit der Ermordung Zehntausender unschuldiger Arbeiter und Kinder im Ausland davonkommt, kann man nicht erwarten, dass sie die Rechte von Arbeitern und Kindern innerhalb ihrer eigenen Grenzen achtet. In eklatanter Verletzung der Meinungsfreiheit und der akademischen Freiheit veranstaltet die amerikanische Regierung bereits inquisitorische Anhörungen, um von den Universitäten zu verlangen, dass sie den Widerstand gegen die Kriegsverbrechen in Gaza unterdrücken.

Im Laufe der letzten Jahre hat besonders die amerikanische Justiz massiv an Ansehen und Legitimität eingebüßt. Der geheimnisvolle Nimbus der Roben und prächtigen Gerichtssäle zerfällt, da rechtsextreme Richter wie Clarence Thomas am Obersten Gerichtshof ihre Korruption in aller Öffentlichkeit zur Schau stellen. Es zeigt sich: Richter sind genauso zu Korruption, Dummheit und Tyrannei fähig wie die Politiker.

Das äußerst provokante Verhalten der christlich-fundamentalistischen extremen Rechten steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer schmalen Basis in der Gesellschaft. In Amerika unterstützen mindestens 70 Prozent der Bevölkerung das Recht auf Abtreibung. Diese Stimmung findet jedoch kaum Ausdruck in einem politischen Establishment, das den Bedürfnissen und Bestrebungen der großen Mehrheit der Bevölkerung feindlich gegenübersteht.

Abgesehen von einigen symbolischen Gesten zu Wahlkampfzwecken bleiben die Demokraten untätig, während die Republikaner die Grundrechte attackieren. Die Demokraten wollen vor allem ihre „parteiübergreifende Einheit“ für die Unterstützung der imperialistischen Militäroperationen der Biden-Regierung in Osteuropa, dem Nahen Osten und Ostasien erhalten.

Immer mehr Arbeiter in Amerika und auf der ganzen Welt erkennen, dass Staat, Parteien und Gerichte im Kapitalismus keine verlässlichen Garanten für demokratische Grundrechte sind. Im Gegenteil. Sie repräsentieren die gesellschaftlichen Kräfte, die demokratischen Rechten feindlich gesonnen sind und sie zerstören. Diese Entwicklung spiegelt die Grundtendenz des Kapitalismus in seiner letzten Phase wider, die nicht in Richtung Demokratie, sondern in Richtung Diktatur und Krieg geht.

Erst im Kampf für Sozialismus und nach dem Sturz des Kapitalismus werden das uneingeschränkte Recht auf Abtreibung und alle anderen Grundrechte, die für die vollständige Emanzipation des Menschen notwendig sind, endgültig und dauerhaft garantiert.

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